Die sechsköpfige Familie J. steht ohne jegliche Existenzsicherung da – auch Arbeiten wird den Eltern verunmöglicht.

Foto: vömit - miteinander in bad vöslau

Niederösterreich ist das Musterland türkiser Sozialpolitik. Das Bundesland galt auch als Vorbild für die von Türkis-Blau eingeführte neue Sozialhilfe – unter dem von Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) vorgegebenen Motto: "Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein."

Folgerichtig war Niederösterreich auch am eifrigsten in der Umsetzung des Rahmengesetzes für die Sozialhilfe des Bundes, mit der das frühere System der Mindestsicherung abgeschafft wurde.

Eines der Gesichter dieser Umsetzung ist die Familie J. Die Eltern mit ihren vier Kindern (zehn, acht, sechs und zwei Jahre alt) stammen aus dem Irak und wohnen heute in Bad Vöslau im Industrieviertel. Sie bekommen die Auswirkungen des niederösterreichischen Sozialhilfe-Ausführungsgesetzes gerade am eigenen Leib zu spüren – indem sie vor dem Nichts stehen.

Kein Anspruch auf Mindestsicherung

Die J.s waren bis zum Oktober 2020 Asylwerber. In erster Instanz wurde der Asylantrag der Familie abgewiesen. Sie gingen in Berufung. Das Bundesverwaltungsgericht in Linz stellte fest: Die J.s haben Anspruch auf humanitäres Bleiberecht. Was erst einmal wie eine gute Nachricht klingt, hat in Niederösterreich allerdings drastische Folgen.

Denn während die Familie mit dem Status als Asylwerber Anspruch auf die Grundversorgung durch das Land hatte, hat das Bundesland bei der Umsetzung des Sozialhilfe-Gesetzes entschieden, dass Personen mit humanitärem Bleiberecht keinen Anspruch auf Sozialhilfe oder sonstige soziale Leistungen des Landes haben. Nur die Familienbeihilfe und das Kinderbetreuungsgeld bleiben den J.s.

Zehn Tage für Umzug

Ein Schreiben des Amtes der Landesregierung, das dem STANDARD vorliegt, teilte der Familie am 20. Oktober mit, dass sie per 30. Oktober wegen ihres neuen Aufenthaltstitels "aus der Grundversorgung entlassen" würden.

Damit geht auch einher, dass "die Zahlungen an den Quartiergeber eingestellt" würden. Die J.s haben natürlich innerhalb von zehn Tagen und ohne Geld keine neue Wohnung gefunden; sie bleiben derzeit unter ungewissen Bedingungen in ihrer Unterkunft.

Arbeit de facto ausgeschlossen

Der Gedanke "Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein" greift hier nicht. Denn als Drittstaatsangehörige sind die Eltern am Arbeitsmarkt benachteiligt. Sie bekommen nur einen Job, wenn sich ihr künftiger Arbeitgeber um eine Bewilligung bemüht – und auch dann muss geprüft werden, ob für die Stelle nicht ein Österreicher oder Unionsbürger infrage kommt.

Eine Lücke, auf die die Diakonie seit Monaten aufmerksam macht. "Es gibt keine andere Alternative, als das Sozialhilfe-Grundsatz-Gesetz zu sanieren", sagt ihre Direktorin Maria Katharina Moser. "Die Länder haben Spielräume, zusätzliche Regelungen zu treffen", sagt sie – Oberösterreich etwa legt das Rahmengesetz des Bundes nicht so streng aus. Die meisten anderen Bundesländer sind in der Umsetzung überhaupt säumig. Mittelfristig, sagt Moser, sei der Bund gefordert, eine Lösung zu fordern.

ÖVP-Mandatar will sich um Lösung bemühen

Das sagt auch Anton Erber, Sozialsprecher der ÖVP Niederösterreich im Landtag: Die Umsetzung des Gesetzes entspricht der Rechtsansicht des Landes. Dauerhaft müsse das Problem also im Nationalrat gelöst werden, sagt er. Aber: Die vorhandene Lücke im Gesetz sei nicht tragbar, "da muss eine Lösung her, und zwar schnell". Ihm schwebt kurzfristig eine Härtefalllösung auf Landesebene vor, er will sich dafür einsetzen.

Erber sagt, er habe mit den Verantwortlichen im Amt der Landesregierung schon gesprochen, sie hätten erst durch die STANDARD-Anfrage von dem Fall der Familie J. erfahren.

Regierung weiß Bescheid

Gerlinde Buchberger, die Obfrau des Vereins "Vömit – Miteinander in Bad Vöslau" hält dem eine lange Liste entgegen, sie beginnt mit dem Datum 27. Oktober. Das war das erste Mal, dass sie beim Land wegen der Situation der Familie J. angerufen hat. Und es folgten weitere Telefonate, Schreiben und sogar ein offener Brief an Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Buchberger spricht von einem Katz-und-Maus-Spiel.

Die sechsköpfige Familie J. steht ohne jegliche Existenzsicherung da – auch Arbeiten wird den Eltern verunmöglicht. (Sebastian Fellner, 10.12.2020)